Mitarbeiter bei der Fertigung eines Pkw in einem Autowerk in Deutschland
IMAGO/Panama Pictures/Dwi Anoraganingrum
Für neue Regierung

Deutsche Wirtschaft als Großbaustelle

Nach der Bundestagswahl in Deutschland ist die erste Baustelle für eine neue Regierung die deutsche Wirtschaft. Die ist in den letzten Jahren unter dem Strich nicht mehr gewachsen, die Aussichten sind schlecht, wie Zahlen von dieser Woche zeigen. Gerade der traditionell starke Pfeiler Industrie ist aktuell die Schwäche der größten Volkswirtschaft der EU. Die Probleme werden sich nicht schnell lösen lassen.

Deutschland ist die größte Volkswirtschaft Europas, hinter den USA und China die drittgrößte der Welt und die globale Nummer drei unter den Exportländern. Seit 2023 allerdings geht das Bruttoinlandsprodukt (BIP) laut Rechnung des Statistischen Bundesamtes (Destatis) real zurück – die deutsche Wirtschaft steckt seit zwei Jahren in der längsten Rezession seit 2002/2003 fest.

Die am Dienstag veröffentlichten Daten für das letzte Quartal des Vorjahres zeigen einen Rückgang des BIP im letzten Quartal und auf Jahressicht um jeweils 0,2 Prozent. Exportvolumen und Investitionen sanken, die Bruttowertschöpfung lag „in den meisten Bereichen im Minus“, hieß es in einer Presseaussendung von Destatis, am deutlichsten im verarbeitenden Gewerbe, und dort wiederum vor allem im Maschinen- und Fahrzeugbau. Pessimistische Prognosen gehen für 2025 von einer neuerlichen Rezession aus. Die wäre dann die längste seit Bestehen der Bundesrepublik. Die Arbeitslosenzahl liegt laut Angaben vom Freitag deutlich über Vorjahresniveau bei knapp unter drei Millionen.

Strukturkrise und Exportlastigkeit

Die wirtschaftlichen Probleme werden häufig unter dem Begriff Strukturkrise zusammengefasst, gemeint sind mitunter unterschiedliche Dinge, meist sind es die Branchenkrise in der Fahrzeugindustrie und Deutschlands Industrie- und Exportlastigkeit generell. Dazu kommen Probleme im Wettbewerb, die Energiewende, geopolitische Unsicherheitsfaktoren.

Der deutschen Wirtschaft gehe es aus zwei Gründen schlecht, so der Ökonom Marcus Scheiblecker vom Österreichischen Institut für Wirtschaftsforschung (WIFO) im Gespräch mit ORF.at. Die Industrieproduktion kämpfe bereits seit 2018 mit einem negativen Trend. Das sei kein konjunkturelles, sondern ein strukturelles Problem.

Mehrere Faktoren kommen zusammen

Dazu komme die schwache Konjunktur seit 2023. Von der ist auch Österreich betroffen. Aber: In Deutschland kämen beide Faktoren zusammen, die schwache Konjunktur wirke als eine weitere „Kraft nach unten“, wobei der erste (strukturelle) Trend wohl der größere Grund zur Sorge sei. Die Konjunktur werde früher oder später wieder anspringen, die strukturellen Probleme müssten zuvor gelöst werden.

Das WIFO hat kürzlich in einem aktualisierten Ländervergleich die Entwicklung der Industrieproduktion in Österreich, Deutschland, Dänemark und der Schweiz in den letzten Jahren gegenübergestellt. Dabei zeigt sich, dass diese in Deutschland bereits ab 2018 zurückging, in Österreich erst mit der Rezession 2023. Dänemark und die Schweiz erwiesen sich als resistenter.

Deutliche Abwärtskurve

Deutschland ist laut Zahlen aus dem WIFO-Bericht nicht wesentlich „industrielastiger“ als Österreich und die beiden anderen Länder im Vergleich. Der Anteil der Industrie bzw. der Produktion von Waren an der gesamten Wertschöpfung liegt bei 20 Prozent. In Österreich, Dänemark und der Schweiz sind es 18 Prozent.

Aber: Die Gewichtung ist eine andere. Den wesentlichen Anteil liefert in Deutschland mit 16,5 Prozent der Maschinenbau, gefolgt von der Fahrzeugindustrie (15,5 Prozent), der Herstellung von Metallerzeugnissen, chemischen Erzeugnissen und „elektrischen Ausrüstungen“, wie es laut statistischer Nomenklatur heißt.

Laut WIFO lagen die Indizes der fünf wichtigsten Industriebranchen in Deutschland zuletzt unter dem Niveau von 2017. Die Fahrzeugindustrie litt stark unter der Covid-19-Pandemie, 2024 lag die Produktion unter dem Wert von vor der Pandemie. Mittlerweile ist die Autobranche, die 70 Prozent ihrer Umsätze durch den Export erwirtschaftet, nicht mehr die stärkste deutsche Industriesparte.

Der „Mix“ macht es

In Österreich liefert der Maschinenbau 14 Prozent der Wertschöpfung in der Industrie bzw. Warenproduktion, die Herstellung von Metallerzeugnissen 10,6 Prozent, dann folgen die Produktion von Nahrungs- und Futtermitteln, Metallerzeugnissen und die Elektroindustrie.

Grafik zeigt den Anteil an der Wertschöpfung in der Industrieproduktion in den Ländern Österreich, Deutschland, Dänemark und Schweiz
Grafik: ORF.at; Quelle: WIFO

In Dänemark und der Schweiz dominiert den „Mix“ mit einem Anteil von 20,9 bzw. 29,1 Prozent ganz klar die eher weniger konjunkturanfällige Pharmaindustrie, in der Schweiz zusätzlich die Elektronikbranche. Ihr besseres Abschneiden im Vergleich der letzten Jahre verdankten Dänemark und die Schweiz der Pharmabranche, so WIFO-Ökonom und Studienautor Scheiblecker.

Wackelnde „Grundfesten“

Die Bedeutung der Industrie bemesse sich für ein Land unter anderem an ihrem Beitrag zu dessen BIP, heißt es in dem WIFO-Bericht erläuternd. Im Umkehrschluss bedeutet das aber auch, dass die Folgen für das Gesamtgefüge umso größer sind, wenn wie in Deutschland mit der Fahrzeugindustrie eine Schlüsselbranche ins Trudeln gerät und keine anderen das Minus kompensieren können.

Die Autohersteller mit ihren Absatzproblemen sind nämlich längst nicht die einzigen Sorgenkinder. Die Probleme zögen sich quer durch die Branchen, so Scheiblecker. Die Baubranche etwa kämpft, ähnlich wie in Österreich, ebenfalls mit sinkenden Umsätzen.

Lange Liste von Problemen

Die Liste der Gründe für die gesamte Misere, die immer wieder genannt werden, ist lang: eine sinkende Nachfrage auf wichtigen Exportmärkten wie China und gleichzeitig wachsende Konkurrenz von dort, der zunehmende Protektionismus samt neuen Zollschranken im Welthandel, geopolitische Unsicherheiten durch die Kriege in der Ukraine und dem Nahen Osten, eine schwache Inlandsnachfrage und Konsumzurückhaltung wegen der hohen Inflation in den letzten Jahren, teure Kredite, stark gestiegene Energiepreise, die hohen Kosten für Atom- und Kohleausstieg.

Das Steinkohlekraftwerk Moorburg, ehemals Vattenfall wird abgerissen und umgebaut
IMAGO/Joerg Boethling
Der sukzessive Ausstieg aus Kohle zur Energieproduktion kostet Deutschland viel Geld

Dazu kommen aus Sicht der Industrie zu hohe Lohnkosten und Steuern, zu viel Bürokratie als Standort- und Wettbewerbsnachteile, eine veraltete Infrastruktur, Versäumnisse bei Investitionen in Forschung und Entwicklung, Fachkräftemangel bei einer gleichzeitig steigenden Arbeitslosenrate von laut Bundesagentur für Arbeit zuletzt 6,4 Prozent (Österreich: 8,4 Prozent).

Das Problem mit „Plan B“

Das „Wall Street Journal“ schrieb zuletzt: Das deutsche Wirtschaftsmodell sei „zerbrochen“, und niemand habe einen „Plan B“. Die Krise sei so ernst, da sie die „Grundfesten des exportabhängigen wirtschaftlichen Modells Deutschlands“ erschüttere. Die Einschätzung mag ein wenig zu dramatisch klingen, aber ein „Plan B“ einer neuen Bundesregierung in Berlin, wahrscheinlich unter einem CDU-Bundeskanzler Friedrich Merz und einer Koalition aus CDU/CSU und SPD, ist aktuell jedenfalls gefragt.

Bereits am Tag nach der Wahl meldeten Industrie, Verbände und Ökonomen ihre Begehren an: möglichst rasch eine stabile Regierung, Investitionen in den Wirtschaftsstandort, Bildung und Innovation, Steuerentlastungen, weniger Bürokratie, niedrigere Energiepreise. Die meisten dieser Wünsche sind nicht ganz schnell zu erfüllen.